Poesie


Die Einladung

 

Es interessiert mich nicht, wovon Du Deinen Lebensunterhalt bestreitest.

Ich möchte wissen, wonach Du Dich sehnst und ob Du es wagst,

davon zu träumen, Deine Herzenswünsche zu erfüllen.

 

Es interessiert mich nicht, wie alt Du bist.

Ich möchte wissen, ob Du es riskieren wirst,

verrückt vor Liebe zu sein, vernarrt in Deine Träume,

in das Abenteuer, lebendig zu sein.

 

Es interessiert mich nicht, welche Planeten in welcher Konstellation zu Deinem Mond stehen.

Ich möchte wissen, ob Du die Mitte Deines Leids berührt hast,

ob Du durch Verrat, den Du im Leben erfahren hast,

aufgebrochen und offen geworden

oder geschrumpft bist und Dich verschlossen hast vor Angst und weiterem Schmerz.

 

Ich möchte wissen, ob Du dasitzen kannst mit Schmerz

– meinem oder Deinem eigenen –

ohne irgendeine Bewegung der Ausflucht,

ohne den Schmerz zu verbergen, ohne ihn verschwinden zu lassen, ohne ihn festzuhalten.

 

Ich möchte wissen, ob Du mit Freude dasein kannst

– meiner oder Deiner eigenen –

ob Du mit Wildheit tanzen und zulassen kannst,

daß Ekstase Dich erfüllt bis in die Fingerspitzen und Zehen hinein,

ohne jene Vorsicht, in der du dich in acht nimmst,

realistisch bist und dich an die Begrenzung des Menschendaseins erinnerst.

 

Es interessiert mich nicht, ob die Geschichte, die Du mir erzählst, wahr ist.

Ich möchte wissen, ob Du jemanden enttäuschen kannst, um zu Dir selbst ehrlich zu sein,

ob Du es erträgst, daß Dir deshalb jemand Vorwürfe macht

und Du trotzdem Deine eigene Seele nicht verrätst.

Ich möchte wissen, ob Du treu sein kannst und zuverlässig.

 

Ich möchte wissen, ob Du Schönheit sehen kannst, auch dann, wenn es nicht jeden Tag schön ist

und ob Du in Deinem Leben einen göttlichen Funken spürst.

Ich möchte wissen, ob Du mit Mißerfolg leben kannst

– mit Deinem und meinem –

und immer noch am Ufer eines Sees stehen und “Ja“ zum Vollmond rufen kannst.

 

Es interessiert mich nicht, wo Du lebst oder wieviel Geld Du hast.

Ich möchte wissen, ob Du nach einer kummervollen Nacht voller Verzweiflung aufstehen kannst

–ausgelaugt und mit Schmerzen –

und trotzdem tust, was getan werden muß für Deine Kinder oder andere Menschen.

 

Es interessiert mich nicht, welche Schulausbildung Du hast oder wo und bei wem Du studiert hast.

Ich möchte wissen, ob Du mit mir in der Mitte des Feuers stehen und nicht zurückschrecken wirst.

Ich möchte wissen, was Dich von innen aufrecht erhält, wenn alles andere wegfällt.

 

Ich möchte wissen, ob Du mit Dir selbst alleine sein kannst

und ob Du wirklich die Leute magst, mit denen Du Dich in Zeiten der Leere umgibst.

 

Oriah Mountain Dreamer

 

 

Der Panther

 

Im Jardin des Plantes, Paris

 

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe

so müd geworden, dass er nichts mehr hält.

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

und hinter tausend Stäben keine Welt.

 

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,

ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,

in der betäubt ein großer Wille steht.

 

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille

sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,

geht durch der Glieder angespannte Stille -

und hört im Herzen auf zu sein.

 

Rainer Maria Rilke, Paris

 

 

Die Schale der Liebe

 

Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und nicht als Kanal,

der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt,

während jene wartet, bis sie gefüllt ist.

 

Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter.

Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen und habe nicht den Wunsch freigiebiger zu sein als Gott.

 

Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird sie zur See. Du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen, und dann ausgießen.

 

Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen.

Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst.

Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut?

Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle,

wenn nicht, schone dich.

 

Bernhard von Clairvaux

 

 

Morgenwonne

 

Ich bin so knallvergnügt erwacht.

Ich klatsche meine Hüften.

Das Wasser lockt. Die Seife lacht.

Es dürstet mich nach Lüften.

 

Ein schmuckes Laken macht einen Knicks

Und gratuliert mir zum Baden.

Zwei schwarze Schuhe in blankem Wichs

Betiteln mich „Euer Gnaden“.

 

Aus meiner tiefsten Seele zieht

Mit Nasenflügelbeben

Ein ungeheurer Appetit

Nach Frühstück und nach Leben.

 

Joachim Ringelnatz

 

 

Lass dich fallen

 

Lass dich fallen,

lerne Schlangen beobachten,

pflanze unmögliche Gärten.

Lade jemanden Gefährlichen zum Tee ein,

mache kleine Zeichen, die „Ja“ sagen und

verteile sie überall in deinem Haus.

Werde ein Freund von Freiheit und Unsicherheit.

Freue dich auf Träume.

Weine bei Kinofilmen,

schaukle so hoch du kannst mit deiner Schaukel bei Mondlicht.

Pflege verschiedene Stimmungen,

verweigere „verantwortlich zu sein“,

tue es aus Liebe.

Glaube an Zauberei,

lache eine Menge,

bade im Mondlicht.

Träume wilde phantasievolle Träume,

zeichne auf die Wände.

Lies jeden Tag.

Stell dir vor, du wärst verzaubert,

kichere mit Kindern,

höre alten Leuten zu.

Spiele mit allem,

unterhalte das Kind in dir,

du bist unschuldig,

baue eine Burg aus Decken,

werde nass,

umarme Bäume,

schreibe Liebesbriefe.

 

Joseph Beuys

 

 

Mein Leben ist wie leise See

 

Mein Leben ist wie leise See:

Wohnt in den Uferhäusern das Weh,

wagt sich nicht aus den Höfen.

Nur manchmal zittert ein Nahn und Fliehn:

Aufgestörte Wünsche ziehn

Darüber wie silberne Möwen.

 

Und dann ist alles wieder still. . .

Und weißt du was mein Leben will,

hast du es schon verstanden?

Wie eine Welle im Morgenmeer

Will es, rauschend und muschelschwer,

An deiner Seele landen.

 

Rainer Maria Rilke

 

 

How To Paint the Portrait of a Bird

 

Paint first a birdcage

With an open door

Paint next

Something nice

Something simple

Something beautiful

Something useful

For the bird

 

Place then the painting to a tree

In a garden

In a wood

Or in a forest

Hide behind the tree

Without saying anything

Without moving…

 

Sometimes the bird comes fast

But he can arrive after long years

Before decided to come

Not to discourage itself

Wait

Wait for years if we have to

The speed or the slowness comes of the bird

Without any relation

With the success of the painting

 

When the bird comes

If he comes

Observe the deepest silence

Wait the bird comes into the birdcage

And when he is in

Close slowly the birdcage with a brush

Then

rub out one by one all the bars

By paying attention not to touch any feathers of the bird

 

Then make the portrait of the tree

Choosing the most beautiful leafs of its branches

For the bird

Paint too the green leaves and the coolness of the wind

The sun dust

And the noise of the green beats in the summer heat

And wait that the bird decide to sing

 

If the bird doesn’t sing

It’s a bad sign

Sign that the painting is bad

But if he sings it’s a good sign

Sign that you can sign

 

So you can tear slowly

One of the feather of the bird

And you write your name

 

In a corner of the painting.

 

Jacques Prévert

 

 

Was Erfolg ist

 

Es hat derjenige Erfolg gehabt,

der gut gelebt, oft gelacht und viel geliebt hat.

 

Der sich das Vertrauen und die Achtung kluger Menschen verdiente und die Liebe kleiner Kinder.

 

Der seinen Platz fand und seine Aufgabe erfüllte;

der die Welt besser verließ, als er sie vorfand,

sei es durch schöne Blumen, die er züchtete,

ein vollendetes Gedicht oder eine gerettete Seele.

 

Es hat derjenige Erfolg gehabt,

dem es nie an Dankbarkeit fehlte,

der die Schönheit unserer Welt zu schätzen wusste

und der nie versäumte, dies auszudrücken;

 

der in anderen immer nur das Beste suchte

und von sich das Beste gab;

 

dessen Leben eine Inspiration war

und die Erinnerung an ihn ein Segen.

 

Bessie Anderson Stanley

 

 

Ich gehe eine Straße entlang (Das Loch)

 

Ich gehe die Straße entlang.

Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.

Ich falle hinein.

Ich bin verloren … Ich bin ohne Hoffnung.

Es ist nicht meine Schuld.

Es dauert endlos, wieder herauszukommen.

 

Ich gehe dieselbe Straße entlang.

Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.

Ich tue so, als sähe ich es nicht.

Ich falle wieder hinein.

Ich kann nicht glauben, schon wieder am gleichen Ort zu sein.

Aber es ist nicht meine Schuld.

Immer noch dauert es sehr lange, herauszukommen.

 

Ich gehe dieselbe Straße entlang.

Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.

Ich sehe es.

Ich falle immer noch hinein … aus Gewohnheit.

Meine Augen sind offen.

Ich weiß, wo ich bin.

Es ist meine eigene Schuld.

Ich komme sofort heraus.

 

Ich gehe dieselbe Straße entlang.

Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.

Ich gehe darum herum.

 

Ich gehe eine andere Straße entlang.

 

Nyoshul Khenpos, zitiert in Sogyal Rinpoche